SYNTHESE

Zum fotografischen Werk von Ralf Cohen     Ursula Merkel

Ralf Cohens künstlerische Fotografie, die mittlerweile fast ein halbes Jahrhundert umspannt, hat sich in einer Vielzahl unterschiedlicher Entwicklungsschritte und Werkgruppen entfaltet. Die hier vorgestellte Auswahl gibt Einblick in die Ursprünge seiner Arbeit, zeigt die divergierenden Ansätze, lässt Wandlungen und Brüche, Kontinuitäten und Experimente ebenso anschaulich werden wie die intensive Beschäftigung mit bestimmten Themenkomplexen und den technisch-gestalterischen Mitteln des Mediums. Von einer zur nächsten Werkphase werden teils fließende Übergänge, teils überraschende Sprünge nachvollziehbar, in denen sich die Vorstellungen und Ideen, die konzeptuellen Überlegungen und Entscheidungen des Künstlers spiegeln. Zu den wesentlichen Konstanten in Cohens Laufbahn zählen nicht nur Offenheit für schöpferische Prozesse und visuelle Neugierde, sondern auch die beständige Reflexion des eigenen Sehens und der Bedingungen des technisch erzeugten Bildes.
In der vorliegenden Zusammenschau tritt die Einzigartigkeit jeder Aufnahme und jeder Sequenz hervor, zugleich schärft sich der Blick auf das Gesamtwerk, das inhaltlich und methodisch enger miteinander verknüpft ist, als es zunächst scheinen mag. Das Motivspektrum umfasst Landschaften, nahansichtige Naturausschnitte, Architekturen, Straßenfotografie und Porträts. Dabei gilt das vornehmliche Interesse des Künstlers nicht dem vordergründig Sensationellen oder Spektakulären. Die Unverwechselbarkeit der Bildsprache von Ralf Cohen resultiert vielmehr aus einem besonderen Gespür für die gleichermaßen außergewöhnlichen wie unbemerkten Ereignisse im Alltäglichem, für die verborgene Ästhetik zufälliger Konstellationen und für das nahezu unerschöpfliche bildnerische Potenzial, das dem Medium der analogen Fotografie durch experimentelle Verfahren wie Hell-Dunkel-Umkehrung, Solarisation, farbliche Verfremdung, Langzeitbelichtung und anderes mehr innewohnt.
Analog, digital oder beides? Diese Grundsatzentscheidung, die Fotografen heute treffen müssen, hat Ralf Cohen schon früh und mit aller Konsequenz für sich festgelegt. Das Handwerk der damals noch ausschließlich analogen Fotografie erlernte er von der Pike auf – in einer Zeit, als die elektronische Bildbearbeitung noch in den Kinderschuhen steckte. Ausgebildet in Düsseldorf und bis Mitte der 1970er-Jahre an der Fachhochschule Köln, siedelte er 1980 nach Karlsruhe über und ist seither als freischaffender Künstler tätig. Etwas später begann die Etablierung der digitalen Technik und mit ihr eine revolutionäre Umwälzung, die der Fotografie bald ungeahnte Dimensionen öffnete. Doch Ralf Cohen hat darin nie eine Alternative zu seiner analogen Vorgehensweise gesehen. Bis heute entstehen seine Bilder ohne digitale Nachbearbeitung allein mit den Mitteln der klassischen Lichtbildkunst in der Dunkelkammer, sind Resultat einer Kette von physikalischen, fotomechanischen und chemischen Reaktionen. Mit anderen Worten: Hinter jeder Aufnahme stehen aufwendige Handarbeit und zeitintensive Prozesse. Das Unvorhersehbare des mitunter alchemistischen Verfahrens wird absichtsvoll mit einkalkuliert. Insofern lassen sich seine Fotografien auch als bewusst gesetzte, gleichsam verlangsamte Gegenbilder zur Schnelllebigkeit der Bilderzeugung in der digitalen Gegenwart verstehen.
Zu den frühen Arbeiten der 1980er-Jahre gehören umfangreiche Serien in Schwarz-Weiß und Farbfotografie, in denen die Beschäftigung mit Licht und Schatten, Bewegung und Raum – meist in Verbindung mit Architektur – dominiert. Nahsichtig wiedergegebene Fassadendetails oder knappe Ausschnitte einer bewegten Wasseroberfläche im Schwimmbad verwandeln sich in grafische Kürzel, abstrakt-geometrische Muster bzw. zerfließende Strukturen und behaupten sich als eigenständige, neu geschaffene Bildwirklichkeit. Unter veränderten Vorzeichen gilt dies auch für die anschließende Werkgruppe der „Menschen in Städten“, einer großformatigen Sequenz aus den Jahren 1986 bis 1988. Grundlage dieser „en passant“ realisierten Bildnisse ist nicht eine auf Sachlichkeit bedachte Haltung wie in den Porträts der Anfangszeit, hier handelt es sich vielmehr um Momentaufnahmen einer gleichsam gedehnten Wahrnehmung, in der sich die Abfolge eines Vorher und Nachher manifestiert. Die Fotografien halten eine alltägliche Situation des urbanen Lebens fest: Menschen eilen durch die Straßen, keiner sieht den anderen, jeder bleibt isoliert, die Blicke wie gefroren. Lange Belichtungszeiten lösen die Konturen der Vorbeigehenden auf, transformieren sie in schemenhafte, fast durchsichtige Akteure. Nur die Physiognomien, vom Blitz hervorgehoben, werden schärfer abgebildet. Dies entspricht in etwa der Wahrnehmung des Auges, das immer nur einen Ausschnitt fokussieren kann. Anders als das Kamerabild ist das Auge jedoch in der Lage nachzujustieren, es kann weitere Eindrücke aufnehmen, addieren und sukzessive das Ganze erfassen. So thematisiert die Serie nicht allein das Phänomen von Auftauchen und Verschwinden der Individuen in einer anonymen Masse, von Sehen bzw. Nicht-Sehen, sie verweist auch auf die Bedingungen des fotografischen Blicks und liefert anschauliche Belegstücke für die Differenz zwischen technischer und menschlicher Wahrnehmung: Mit den selektierenden Mitteln des Fotoapparats kann immer nur ein Bruchteil der Realität eingefangen werden – ein kleiner Augenblick, der schon im nächsten Moment unwiederbringlich vergangen ist.
1990 zeigte die Staatliche Kunsthalle Baden-Baden eine Ausstellung mit Fotografien von Sigmar Polke. Die Begegnung mit den Arbeiten des Kölner Künstlers, der wie kein anderer als „Alchemist der Dunkelkammer“ mit Experimentierlust und Erfindungsreichtum fotografisches Neuland betreten hatte, beeindruckte Ralf Cohen nachhaltig. Sie wurde zu einer Art Initialzündung für sein künftiges Werk, zum Lehrstück darüber, dass es für die Schaffung neuer, überraschender, unkonventioneller Bilder nicht unbedingt auf die perfekte technische Ausrüstung ankommt, wohl aber auf die eigene Intuition und spielerische Unbefangenheit, auf die Bereitschaft Grenzen zu überschreiten und herkömmliche Sehgewohnheiten über Bord zu werfen. Mehr und mehr rückte nun das Instrumentarium der Mehrfachbelichtungen und Solarisationseffekte, der Umkehrungen, Überlagerungen und chemischen Übermalungen bis hin zur bewusst inszenierten Nutzung externer Faktoren in den Mittelpunkt des Interesses. Den Anfang macht die autobiografisch inspirierte Serie des „Recordman“, gefolgt von Reisefotografien aus den USA, Israel und Jordanien, Budapester Badeszenen und einer irritierend verfremdeten Sequenz mit Besuchern einer Vernissage. Mit ihren verschwommenen Sujets und schlierig-blasigen Oberflächen weisen alle diese Fotobilder ausgesprochen malerische Züge auf und entfalten ein Eigenleben von hoher Suggestionskraft.
Einen vorläufigen Höhepunkt in dieser Entwicklung markierte 1997 der Zyklus „Altrhein“. Fasziniert von den vielfältigen Naturerscheinungen, die das steigende und fallende Wasser in den Rheinauen hervorruft, hatte Ralf Cohen zahlreiche Aufnahmen des Altrheins gemacht. Allerdings war er vom Ergebnis seiner Bemühungen tief enttäuscht. Die Abzüge entsprachen in keinster Weise dem, was er eigentlich zur Anschauung bringen wollte. So fasste er den Entschluss, die Kräfte der Natur ganz unmittelbar für sein Vorhaben zu nutzen – eine Methode, die in der Kunstgeschichte durchaus Vorläufer hat. Schon Edvard Munch oder Emil Nolde bedienten sich der Mitarbeit der Elemente, setzten ihre Gemälde und Aquarelle absichtsvoll den Einwirkungen der Witterung aus. Die Negative der Altrheinaufnahmen wurden also am Ort ihrer Entstehung für längere Zeit fixiert ins Wasser gelegt, so dass Sand, Schwemmgut und anderes mehr nicht nur Ablagerungen,  sondern zugleich eine neue Zeitspur hinterließen und auf diesem Wege die fotografischen Bilder vollendeten.
Die Natur als Impulsgeber und Generator neuer, nie gesehener Bildschöpfungen: Unter dieser Prämisse stehen auch die Arbeiten der 2003 einsetzenden Serie GLOBAL. Allerdings mführen sie nicht die gleichsam mikrokosmischen Partikel eines Altrheingewässers vor Augen, sie versetzen uns vielmehr auf hoch ästhetische, geradezu überwältigende Art in die Zeit- und Grenzenlosigkeit des Universums, in die Welt der Planeten, Sternenmeer und fernen Galaxien. Zumindest scheint es so – nicht nur auf den ersten Blick. Tatsächlich verhält es sich jedoch ganz anders. Ausgangspunkt für diese Werkfolge war der Wunsch, die Welt von oben zu sehen. Der Rückgriff auf fremde, vorgefertigte Satellitenbilder aus dem All kam dafür natürlich nicht in Frage, auch wenn sich Cohen mit seinen vermeintlich kosmischen Fotografien zweifelsohne auf derartige Vorlagen bezieht und die geläufigen, wiedererkennbaren Muster ostentativ mit ins Spiel bringt. Wer aber hier vorschnell seinen Augen traut, wird in die Irre geführt. Denn in Wahrheit handelt es sich um Aufnahmen von ganz irdischer Herkunft. In der Mehrzahl bilden sie die mehr oder weniger aufgewühlte Oberfläche des Atlantiks ab, von einem erhöhten Standpunkt fotografiert. Die verblüffende Metamorphose entsteht durch den exakt kalkulierten Einsatz von Farbfiltern und durch die Umkehrung von Positiv zu Negativ. Der helle Himmel verwandelt sich in das dunkle, unendliche Weltall, die Schattentäler der Meereswellen hingegen in lichte Wolken über dem Erdplaneten. Ralf Cohen zeigt uns also einen Teil der Realität – und verwehrt zugleich den schnellen Zugriff auf eine Deutung. Mehr noch: Seine Bilder leiten den Blick über das Kunstwerk auf sich selbst zurück und halten uns einen Spiegel vor, in dem wir unser eigenes Sehen, unsere Projektionen und Erwartungen hinterfragen und erkennen können.
Doch damit nicht genug des verführerischen Scheins, der Augentäuschung und der Bilderrätsel, die unsere Wahrnehmungsfähigkeit in ungeahnter Weise herausfordern. Wie eine Fortsetzung und Steigerung der sphärisch aufgeladenen Sequenz GLOBAL muten die geheimnisvollen „Bilder ohne Kamera“ der Serie INSEL an. Aus tiefster Schwärze glühen da amorphe Gebilde in einer Farben- und Formenvielfalt von magischer Schönheit auf, kostbar funkelnden Edelsteinen gleich. Sind das nie zuvor entdeckte, fremdartige Eilande, mit dem Fotoapparat aus großer Distanz auf Zelluloid gebannt? Weit gefehlt, auch hier gilt, dass der Betrachter in seinem Versuch, das Gesehene zu verstehen, unwillkürlich auf vergleichbare Bildmodelle zurückgreift und deshalb mit seiner Interpretation fehl gehen muss. Die Antwort ist einfacher als gedacht. Die „Inseln“ wurden durch Malerei auf Glasplatten künstlich erzeugt, und zwar unter Verwendung durchscheinender Eiweißlasurfarben, wie sie üblicherweise für Retuschen auf Diapositiven und Farbabzügen verwendet werden. Anschließend folgte im Analogprozess die Invertierung, d. h. die Umkehr der Farben, und die Entwicklung als C-Print. Es ist bislang der einzige Zyklus, dem nicht Ausschnitte der Wirklichkeit, sondern eigens dafür geschaffene Artefakte zugrunde liegen.
Ein Blick auf die neuen und neuesten, teils gerade erst begonnenen Werkfolgen wie PERSPEKTIVEN, NEULAND oder SYNTHESE bezeugt, dass die Arbeit von Ralf Cohen keineswegs abgeschlossen ist. Wir begegnen vielmehr einem „work in progress“, das der Künstler beständig weiterentwickelt, überprüft, modifiziert und um neue Aspekte bereichert – mit Querverbindungen zum bereits Geschaffenen und weit davon entfernt, in Routine oder Wiederholung zu verfallen. So dürfen wir gespannt sein, wie Ralf Cohen auch künftig die Reflexionen über seine Wahrnehmung visualisiert und seine Sicht der Welt zur Anschauung bringt. Sein faszinierender Bilderkosmos lädt uns ein, ihn auf diesen das Sehen und Denken immer wieder von neuem stimulierenden Grenzgängen zu begleiten.

 

Zeitbilder

Ralf Cohen führt die Fotografie vom „l‘instant décisif“ zum „nunc stans“     Ralf Hanselle

Die Zeit heilt alle Bilder. Sie macht sie hinfällig und gegenstandslos; sie vertagt sie oder spült sie achtlos hinweg. Die Zeit wäscht alle Bilder aus und formt sie zu dem, was sie immer schon waren: Momentaufnahmen; Impressionen von einem längst verstrichenen Augenblick. Besonders mit der Fotografie geht die Zeit hart ins Gericht. Immer schon nämlich hatte das fotografische Bild im Verdacht gestanden, nicht mehr zu sein, als ein Beweisstück von der unabänderlich gewordenen Geschichte. Bereits 1839, in dem Jahr, in dem Louis Daguerre das fotografische Verfahren in Paris zum Patent angemeldet hatte, lobte man die Lichtgrafik für ihr Vermögen, in die Fußstapfen der Historienmalerei zu treten. Fotos, so hatte es von nun an den Anschein, waren ihrem Wesen nach melancholische Speicherflächen für die großen Schattenspiele aus der Vorzeit. Die fotografische Platte bildete den Background, vor dem die Gegenwart in die Zukunft drängte.

Und so ist es eigentlich bis heute. „Es ist so gewesen“, lautet noch immer die berühmte Formel des französischen Philosophen Roland Barthes, mit der wir für gewöhnlich Fotografien betrachten. Aus, vorbei, Vergangenheit! In ihrem empirischen Beschwörungen ist die Fotografie stur, dickköpfig und gnadenlos.

Sie, so sollen wir glauben lernen, zeige die sentimentalen Gebrauchsspuren der Zeitenläufe. Und morgen schon werden neue Spuren hinzu addiert werden. Eine wird auf die nächste folgen. Säuberlich werden sie sich an eine Kette aufreihen. Ein neuer Tag, ein neues Foto. Und dazwischen liegt das große Vergessen. Das, was eines Fotos nicht einmal wert war. Das, was ohne Bedeutung war, und was ohne „l‘instant décisif“ verstrich.

Es war der französische Fotograf Henri Cartier-Bresson, der diesen Gedanken in die Welt gesetzt hat. Seither geistert er durch unser mediales Bewusstsein. Fotos, so wollen wir glauben, zeigen „entscheidende Augenblicke“. „Es gibt nichts in der Welt“, so hatte Cartier-Bresson in seiner 1952 erschienenen Monographie „The Decisive Moment“ behauptet, das nicht über einen solch entscheidenden Moment verfügte. Aufgabe des Fotografen sei es lediglich, das Leben aus der Überraschung heraus aufzunehmen – „sozusagen beim Sprung aus dem Bett; in einem Augenblick höchster Dichte.“

Doch was, wenn dieses Leben gar nicht springt? Wenn es nicht in der Luft schwebt, wie jener ikonisch gewordene Mann, den Cartier-Bresson 1932 über eine riesige Pfütze hinter dem Pariser Bahnhof Saint-Lazare springen ließ? Seither hüpft er Tag um Tag. Sein Sprung steckt in unserer Erinnerung fest. Er ist wie eine Schramme oder ein Zeitsprung. Wie ein Kratzer auf einer Langspielplatte. Es ist so gewesen: Ein Mann schwebt für immer über dem Wasser. Dabei hatte doch eigentlich schon der griechische Philosoph Heraklit behauptet, man könne nicht einmal zweimal in denselben Fluss springen. Denn, so der Denker aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert, „andere Wasser strömen nach.“

„Panta rhei“ – der Gedanke von der fließenden Zeit hat das Denken des Abendlandes tief beeinflusst. Zeit, das war seit Heraklit ein unentwegtes Vorwärtsströmen. Ein unausweichliches Gehen mit den Sekunden, den Stunden oder den Jahren. Wer stehenblieb, den spülte der Fortschritt davon. Erst die Moderne hat den Gedanken aufkommen lassen, dass dieser Fluss medial zu bewirtschaften sei. Mittels technischer Bilder ließe sich die Zeit konservieren. Sie ließe sich anhalten und bei Bedarf auch zurückspulen. Die Fotografie, so hat es etwa der Medienphilosoph Götz Großklaus behauptet, hole das Gestern ins Heute und ließe die Geschichte in die Gegenwart springen.

Doch vielleicht springt diese Zeit eben gar nicht. Vielleicht fließt sie auch nicht oder strömt durch den Raum. Der Karlsruher Fotokünstler Ralf Cohen jedenfalls hatte immer schon Bedenken gegenüber allzu selbstverständlichen Gewissheiten in Bezug auf Zeiten, Räume und Bilder. Und auch Cohen illustriert diese Zweifel gerne mit den alten Metaphern von Gewässern und Flüssen. Im Jahr 1994 etwa hat Cohen zahlreiche Aufnahmen des Altrheins bei Karlsruhe gemacht. Zeitablagerungen in Schwarzweiß, aufgenommen im Format 9 x 12 Zentimeter. Momentaufnahmen, so müsste man in Anbetracht seiner ersten, später vernichteten Altrhein-Fotos eigentlich sagen. Das Steigen und Fallen des Wassers hatte er auf ihnen festhalten wollen. Die Ablagerungen, die der Fluss mit sich brachte; die Loslösungen, die er weitertrug. Doch irgendetwas hatte den Künstler beim Anblick seiner ersten Abzüge nicht überzeugt. War das wirklich schon das, was er am Ufer des Flusses gesehen hatte: Schattenspiele im Schilf? Vermodernde Äste im Uferschlick? Spiegelbilder im seichten Wasser? Ralf Cohen war mit den ersten Ergebnissen unzufrieden. Und so zerstörte er die Abzüge und fuhr mit den Negativen erneut an den Fluss.

Am Ufer angekommen, legte er die auf einer Spule aufgewickelten Negative über einen langen Zeitraum hinweg ins Wasser. Eine neue Zeit schrieb sich so in die alten Bilder ein. Eine, die über Stunden anhielt. Als Cohen die Negative schließlich aus dem Fluss herausfischte, hatte sich die Zeitspur auf seinen Bildern verändert. Der „Pencil of Nature“, wie William Henry Fox Talbot 1846 die Fotografie genannt hatte, war in diesen Stunden breiter geworden. Auf Cohens Bildern malte dieser Pinsel jetzt nicht mehr nur
mit dem Licht der Sonne. Er malte mit fluviatilen Sedimenten. Mit all dem, was der Rhein mit sich führte.

Später hat Cohen die Negative ausbelichtet – zunächst im Format 100 x 153 auf Silbergelatine- Barytpapier; dann im Format 40 x 55 Zentimeter auf Kodak Ektalure Warmtonpapier. Die erste Serie verschwand aufgerollt im Archiv, der zweiten gab er den Titel „Altrhein“. Erst 2011 sollte sich Cohen an die großformatigen Barytpapier-Abzüge noch einmal erinnern. Erneut unterzog er da seine Althrein-Aufnahmen einem Transformationsprozess. Indem er nach und nach die Gelatine von den großen Abzügen löste, formte er die Bilder ein letztes Mal um. Diesmal vollzog sich die Wandlung mittels Eingriffen ins Original. Das Ergebnis waren Unikate, denen Ralf Cohen den Namen NEULAND gab. Es ist gerade diese NEULAND-Serie, die sich dem fotografischen Glauben grundlegend verweigert. Zeit, so sagt sie, ist nicht das, was im Motiv eines Bildes wie festgefroren erscheint. Zeit ist ein Prozess, der sich tief in die Fotografie selbst eingeschrieben hat. Denn Fotografien sind für Ralf Cohen eben keine „instants décisifs“; sie sind Schichtungen und Ablagerungen eines langwierigen Transformationsprozesses. Fotografieren heißt für Cohen Wandeln: Im Prozess von Belichtung, Entwicklung und Fixierung, von Nachbearbeitung und Experiment verändert sich die Welt radikal. Cohens Bilder zeigen nicht mehr die Wirklichkeit, wie sie dem Künstler in einem Moment in der Zeit erschienen ist. Sie zeigen die überzeitliche Erscheinung selbst: Die Betrachtung, die über alle Momente hinausreicht. Der Fluss, der sich in der Zeit bewegt hat, wird abstrahiert und aus eben dieser Zeit herausgelöst. Nicht das „Es-ist-so-gewesen“ bestimmen diese Bilder; es ist das archetypische Sehen und Begreifen selbst.

Wasser und Elemente: Immer schon haben sie eine wichtige Rolle auf den Bildern von Ralf Cohen gespielt. Serien wie „Wasserströmung“ von 2001 oder die 2008 entstandenen Arbeiten „weisser Atlantik“ und „schwarzer Pazifik“ künden von Cohens Faszination für jene Unendlichkeit, die sich in den räumlichen Weiten der Ozeane widerspiegelt. Gut zwanzig Jahre zuvor bereits hatte der japanische Fotokünstler Hiroshi Sugimoto eine Serie geschaffen, die erstmals jene Zeiterfahrung zum Ausdruck brachte, die weit über alle Augenblicke hinaus in die Unendlichkeit reichte. Sugimoto zeigte auf diesen Bildern nicht mehr als eine Horizontlinie, die Himmel und Meer in zwei Flächen teilte: „Seascapes“. Eine mythische Ur-Erfahrung. Ein Blick auf die Schöpfung des zweiten Tages: „Dann sprach Gott: Ein Gewölbe entstehe mitten im Wasser und scheide Wasser von Wasser.“ (Gen. 1,6–8). Für Sugimoto waren seine „Seascapes“ ein Ausbruch aus jener fotografischen Zeiterfahrung, in der sich Moment an Moment reiht und sich durch Gestern, Heute und Morgen schlängelt. Denn Vergangenheit und Zukunft existieren auf Sugimotos Bildern nicht mehr. Alles ist einzig Ewigkeit. Ein stehendes Jetzt, das unveränderlich über Raum und Zeit hinausreicht. Einen „l‘instant décisif“ hat es in dieser Wirklichkeit nie gegeben. Denn das Morgen war Gestern, und alles was sein wird, ist schon gewesen. Cohens Wasser-Bilder reflektieren eine ähnliche Erfahrung. Eine, die ebenfalls tief in unserem kollektiven Bewusstsein schlummert – wie ein Nebenstrom zu Heraklits „Panta rhei“.

„Der Augenblick, der vorbeifließt, erzeugt Zeit“, schrieb der spätantike Philosoph Boethius in seinen „Consolatio philosophiae“. „Der Augenblick aber, der anhält, erzeugt Ewigkeit.“ „Nunc stans“ – das „zeitlose Jetzt“. Auf Cohens Fotografien ist es immer schon dagewesen.

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Von oben auf die Welt sehen.

Zum fotografischen Werk von Ralf Cohen     Andreas Beitin

Der mythologische Beginn der Trompe-l’oeil-Malerei, also der simulativen, wirklichkeitsnachahmenden Malerei liegt bekanntermaßen bei einem Wettstreit in der Antike. Plinius der Ältere berichtet hiervon, der griechische Maler Zeuxis habe Trauben so wirklichkeitsgetreu gemalt, dass die Vögel herbeigeflogen sind, um sie zu fressen. Der Maler Parrhasios hingegen habe einen so naturgetreu gemalten leinernen Vorhang aufgestellt, dass der auf das Urteil der Vögel so stolze Zeuxis verlangte, man solle doch endlich den Vorhang fortnehmen und das Bild zeigen. Als er seinen Irrtum einsah, habe er Parrhasios den Preis für die beste Malerei zuerkannt, weil er selbst zwar die Vögel, Parrhasios aber sogar den Künstler habe täuschen können.1

Was bis ins 19. Jahrhundert hinein eine der wichtigsten Aufgaben der Malerei gewesen war, nämlich die möglichst naturgetreue Nachahmung der Wirklichkeit, übernahm seit ihrer Erfindung die Fotografie, wodurch die Malerei bekanntermaßen in eine ernsthafte Krise gestürzt worden ist – mit den entsprechenden Folgen und Entwicklungen für die Kunst. Der Beginn der Fotografie gilt auch als Geburtsstunde der Wahrhaftigkeit, denn das Foto war das Dokument der Wirklichkeit, das über jeden Zweifel erhaben war. Nach mehr als anderthalb Jahrhunderten, den Erfahrungen des Retouchierens und den unendlich erscheinenden Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung, sprich Bildmanipulation und damit der Manipulation der (medial vermittelten) Wirklichkeit, neigen wir trotz allem heute immer noch dazu, beim Anblick einer Fotografie zunächst an die Authentizität des Dargestellten zu glauben. Jedoch hat schon Bert Brecht bereits 1931 hellsichtig, die Techniken der digitalen Welten geradezu antizipierend, geäußert: „Der Photoapparat kann ebenso lügen wie die Setzmaschine“.2 Die Fotografie kann Authentizität vortäuschen, kann Wirklichkeit simulieren. Mittlerweile ist es schon soweit gekommen, dass wir „uns nicht nur an den Fake-Charakter der Fotografien, sondern auch an den Fake-Charakter unserer Wirklichkeit gewöhnt“ haben.3

Mit der Entwicklung der Fotografie kam es zu einer Technisierung des Sehens – fortan waren visuelle Wahrnehmung und Technik unlösbar miteinander verbunden. Vor dem Hintergrund zunehmender Kenntnisse auf den Gebieten von Physik und Optik kommt es seit Ende des vorletzten Jahrhunderts beständig zur interdisziplinären Begegnung von Kunst und Wissenschaft. So haben sich schon die Impressionisten und Pointillisten auf die damals aktuellen Erkenntnisse der Farbenlehre und Farbwahrnehmung berufen. Auch fand eine wechselseitige Beeinflussung von Bewegungsstudien und Futurismus bzw. Kubismus statt. Die Erkenntnisse der Neuro- und Kognitionswissenschaften haben in Verbindung mit Technologien zu ganz neuen Theorien der Wahrnehmung, zu ganz neuen Ansichten über das Sehen und zu ganz neuen visuellen Kunstexperimenten geführt.

1 Gaius Plinius Secundus, Naturkunde, Buch 35: Farben, Malerei, Plastik, herausgegeben und übersetzt von
Roderich König, Artemis & Winkler, München, 1997, S. 57f.
2 Bert Brecht zitiert in: Peter Weibel, Foto-Fake [1980], in: Peter Weibel, Gamma und Amplitude. Medien- und kunsttheoretische
Schriften, herausgegeben, kommentiert und mit einem Vorwort versehen von Rolf Sachsse, Berlin 2004, 76.
3 Weibel 1980, 79.

Von-oben-auf-die-Welt-sehen-Andreas Beitin.pdf (143,4 KiB)

 

Profils artistiques du Rhin supérieur

Ralf Cohen „WeltAnschauung“
Introduction d’exposition - jusqu’au 14. 07. 2013 -
www.museum-hurrle.de

Museum für aktuelle Kunst, Sammlung Hurrle, D-77770 Durbach:
„Profils artistiques du Rhin supérieur“ – Ralf Cohen „WeltAnschauung“

Bien que certains travaux photographiques de Ralf Cohen s´apparentent plus à des clichés numériques d´un monde invisible pour l´oeil humain, á des regards à travers un microscope ou dans l´univers, ce photographe né à Solingen en 1949 choisit dans la plupart des cas des motifs empreints de normalité, voir même de banalité.
Les clichés de paysages, de surfaces marines ou de structures pris selon le procédé analogique à l´aide de caméras moyen ou grand format ne sont pour lui que de simples «résultats intermédiaires» qu´il traite ensuite d´une manière tout digne d´un alchimiste. L´aliénation de la «photographie d´origine» par solarisation, coloration ou inversion des positifs et des négatifs donne naissance à une qualité esthétique, parfois presque pittoresque accompagnée d´un effet déroutant.
Les travaux de Ralf Cohen modifient notre perception habituelle et encouragent une nouvelle de voir.

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